Wissenschaftlich und rechtskräftig bestätigt: Keine Suchtrelevanz bei Lotterien

Das VG Halle hat 2010 rechtskräftig festgestellt, dass Lotto keine erkennbaren Suchtgefahren birgt – auch nicht bei der Internetvermittlung (Az. 3 A 158/09 HAL). Das Urteil basiert auf einer bundesweiten Befragung von über 100 Suchtfachkliniken und über 600 Betreuungsgerichte zu Spielsucht allgemein, sowie explizit zu den Suchtgefahren von Lotterien, sowie Lotto im Internet. Nicht ein einziger Fall (!) eines Kunden konnte bei dieser Vollerhebung ermittelt werden, der aufgrund der Online-Vermittlung von Lotterien ein Problem entwickelt hatte. Zudem wurde auch kein einziger Jugendschutzfall im Internet festgestellt. Das Urteil des VG Halle ist die einzige rechtskräftige Entscheidung zur Internetlotterievermittlung in Deutschland.

 Hintergrund:

 Das Verwaltungsgericht Halle hat am 11. November 2010 zentrale Restriktionen des Glücksspiel-Staatsvertrags (GlüStV) für unanwendbar erklärt und festgestellt, dass es für die Vermittlung von Lotterien – insbesondere Lotto 6 aus 49 – im Internet keiner Erlaubnis bedarf. Damit folgt das Gericht den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Dieser hatte zentrale Beschränkungen des GlüStV aufgrund mangelnder Kohärenz und Konsistenz bereits am 8. September 2010 für unanwendbar erklärt.

In diesem Zusammenhang warf das Gericht die Frage auf, ob es bei Lotterien mit bis zu zwei Ziehungen in der Woche überhaupt eine relevante Suchtgefahr gibt. Das Verwaltungsgericht hatte sämtliche Betreuungsgerichte (Vormundschaftsgerichte), d. h. mehr als 600 Amtsgerichte deutschlandweit anschreiben lassen und nach der Bedeutung von Spielsucht bei ihren Betreuungsverfahren der letzten 5 Jahre gefragt und hierbei auch um Information zur Art des Glücksspiels gefragt. Ebenso hat es 100 große auf Sucht spezialisierte Fachkliniken befragt. Die Rücklaufquote war für wissenschaftliche Befragungen exzellent. Rd. 1/3 hat unmittelbar geantwortet. Der Rücklauf war sogar noch größer. Ganze Flächenstaaten wie Baden-Württemberg, Sachsen, Hessen sind flächendeckend berücksichtigt, indem die OLG die Antworten gesammelt und zusammengefasst haben. Die Kliniken machten deutlich, dass Spielsucht in ihrer Praxis bereits ein Randproblem ist und Lotto hier kaum auftaucht – auch sie betonen die Komorbidität (Begleiterkrankung, d. h. das Lottospiel ist nicht ursächlich, sondern wird auch gespielt). 

In der Analyse der Ergebnisse stellt Prof. Dr. Stöver, Direktor des Instituts für Suchtforschung der Fachhochschule Frankfurt am Main, fest, dass Lottospielen an sich kein erhebliches Suchtproblem begründe. Es gibt keine Lottosucht, sondern allenfalls in Einzelfällen ein komorbides Lottospiel ohne eigenständigen Suchtwert. Es gibt auch keine Internetlottosucht.

 Highlights aus Stövers zusammenfassendem Ergebnis:

„Die Auswertung der Befunde der richterlichen Befragung bestätigt die bereits aus der Gesamtschau der wissenschaftlichen Studien zum Suchtgefährdungspotential von Lotterien (6 aus 49 etc. mit in der Regel zwei Ziehungen pro Woche) ersichtlichen Resultate. Lottospielen an sich begründet kein relevantes Suchtproblem.“

„Dort wo Lotto überhaupt in einem Problemzusammenhang bzw. in einer Krankheitsverlaufsbeschreibung genannt wird, geht es bei der so bezeichneten „Spielsucht“ allgemein um Komorbidität mit anderen Erkrankungen und bei dem problematischen Verhalten – genauer betrachtet – um eine breite Palette von Spielformen, bei der Lotterien regelmäßig keine eigenständige, sondern eine unbedeutende Rolleeinnehmen (siehe auch BZgA 2008, S. 11; Becker 2009,S. 58ff; Meyer/Hayer 2005).“

 „Lottospielen als problematisches Verhalten lässt sich jedenfalls aufgrund der bislang vorliegenden Studien und auch unter Berücksichtigung der Befragung nicht mit einer „Lottosucht“ als einem gesellschaftlich relevant verbreiteten, eigenständigen Phänomen erklären, sondernkann nur im Kontext anderer gewohnheitsmäßiger, alltagsbegleitender Verhaltensweisen verstanden werden, die potentiell auch Schäden mit sich bringen können, die aber im Rahmen ‚normaler’ Lebensrisiken und/oder auch eher harmloser Freizeitbeschäftigungen eingeordnet werden müssen.“ 

 „Dass ein Verbot des Internetvertriebs von Lotto zur Eindämmung eines Suchtphänomens beitragen könnte, ist – trotz der generellen Risiken der Internetnutzung wie Anonymität, Schnelligkeit und Interaktivität – vor diesem Hintergrund eine in den Bereich der bloßen Spekulation einzuordnende, nicht wissenschaftlich zu belegende Behauptung. Sie beruht auf einer Vermutung, für die aus den bisherigen Untersuchungen und auch den vorliegenden Ergebnissen keine substantiellen Anhaltspunkte gewonnen werden können, zumal die meisten Risiken des Internets sich bei der bloßen Vermittlung von Lotto nicht verwirklichen können (z.B. echte Anonymität oder Interaktivität des Gewinnereignisses beim Lottospiel). „

 „Selbst soweit über zwanghafte Verhaltensweisen gesprochen wird, erreicht die Bedeutung problematischen, zwanghaften Lottospiels, das als Phänomen mit relevanter Verbreitung bislang nicht wissenschaftlich nachvollziehbar nachgewiesen ist, jedenfalls weder nach den bekannten Studien noch nach den Ergebnissen der richterlichen Befragung ein Maß, das an alltäglichere – für die Betroffenen jedenfalls nicht weniger problematische – zwanghafte Verhalten heranreichte.“

 Spätestens mit diesem Verfahren sollte allen klar sein, dass es keine „Lotto-Sucht“ gibt, die Spielsuchtbegründung für die Legitimation eines Lotterieveranstaltungsmonopols weder verfassungs- noch gemeinschaftsrechtlich haltbar ist. Mit diesem empirischen Beweis stößt auch der Ermessenspielraum des Gesetzgebers an seine Grenzen (Urteil BVerfG 2008). 

 

  • VG HalleUrteil VG Halle 3A 158/09DOWNLOAD
  • Deutscher LottoverbandAuszüge aus dem Urteil des VG Halle vom 11.11.2010DOWNLOAD
  • Prof. Dr. Heino StöverGutachten Prof. Stöver zum Urteil VG HalleDOWNLOAD
  • Kanzlei RedekerKommentierung zum Urteil des VG HalleDOWNLOAD